Sonntag, 6. Oktober 2019

Kann ich auch -- offener Brief an Frau Merkel als Replik auf Juli Zeh
(original gepostet 20.05.2014 auf Google+)


Guten Tag Frau Merkel,

hiermit möchte ich auf den offenen Brief von Juli Zeh an Sie antworten.

Auch ich wurde durch die “Snowden-Enthüllungen” und “NSA-Affäre” aus einem gewissen “politischen Dämmerschlaf” geweckt, aber in eine andere Richtung als diejenigen, die sich nun lauthals gegen eine angebliche “Totalüberwachung” empören.
Meine Zweifel begannen mit einer der ersten “Enthüllung”, der Berichterstattung der Washington Post und des Guardian über das NSA-Programm “PRISM”. Es war der große Paukenschlag: Snowden und die Medien behaupteten, die NSA hätte einen “direkten Zugriff” auf die Server der Internetriesen wie Google, Facebook, Microsoft etc.
Als ich diese Geschichte das erste Mal hörte, da dachte ich nur: “Nein, das glaube ich nicht. Das ist unplausibel. Das nehme ich erst ab, wenn es entweder bestätigt oder einwandfrei belegt wird.”

Mein Misstrauen war angebracht. Es wurde von allen Beteiligten heftig und eindeutig dementiert. Und die angeblichen Belege für die Behauptung lösten sich in Luft auf. Die Geschichte um den “direkten Zugriff” entpuppte sich als eine einzige Lüge. Und inzwischen machte selbst Snowden einen Rückzieher von dieser Behauptung.

Seither verfolge ich die Medienberichte mit äußerstem Misstrauen und hinterfragte jede der folgenden Enthüllungen kritisch. Und auch dieses Misstrauen erwies sich als angebracht. Auch wenn die wenigsten der folgenden Enthüllungen so gänzlich falsch waren wie die Geschichte vom “direkten Zugriff” (aber auch das kam noch vor, z. B. wurden die Dokumente zu “Boundless Informant” vollkommen falsch interpretiert), so waren die meisten doch zumindest maßlos übertrieben.

Und hier liegt die eigentliche Gefahr für unsere Demokratie. Geheimdienste, die im Ausland spionieren, sind nicht wirklich eine Gefahr für die Demokratie. Das machen Geheimdienste schon, solange es Nationalstaaten gibt. Nein, eine Gefahr für die Demokratie sind eher die Medien und Aktivisten wie Frau Zeh (*), die falsche Behauptungen, Übertreibungen und Unterstellungen als Tatsachen hinstellen und dann verlangen, man möge doch bitte basierend auf diesen angeblichen Tatsachen eine Debatte über Privatsphäre und Überwachung in unserer digitalen Gesellschaft führen.

Meine Antwort ist auch ein Appell an Sie, Frau Merkel, weiter Ihren bisherigen, besonnenen Kurs fortzusetzen, frei von jedem unangebrachten  Aktionismus. Ihre Sachlichkeit ist gerade bei diesem Thema gefragt, bei dem soviel übertrieben, sensationalisiert, und auch gelogen wird. Und bei dem mit der Angst der Menschen gespielt wird.

Im Folgenden werde ich einige der unwahren Behauptungen, Unterstellungen und Übertreibungen von Frau Zeh richtig stellen, auf deren Basis sie Handlungen von Ihnen erwartet.


(*) Nicht, dass das jemand falsch versteht. Ich fordere keineswegs ein (staatliches) Einschreiten gegen mangelhafte, tendenziöse oder falsche Berichterstattung. Pressefreiheit ist ein sehr hohes Gut. In dem Sinne ist auch mein Brief gemeint. Ich bin überzeugt, dass in unserer freien und offenen Gesellschaft letzten Endes das bessere Argument siegt.



Die eingerückten Abschnitte sind die Originalzitate von Frau Zeh:

Was NSA und Internetkonzerne wie Google oder Facebook betreiben, ist kein Datensammeln aus Spaß an der Freud. Auch hat es wenig mit dem zu tun, was Sie oder ich unter nationaler Sicherheit verstehen. Ziel des Spiels ist das Erreichen von Vorhersehbarkeit und damit Steuerbarkeit von menschlichem Verhalten im Ganzen.

Woher weiß Frau Zeh, was "Ziel des Spiels" von NSA und Google ist? Aus welchen Snowden-Dokumenten geht hervor, dass "Steuerbarkeit von menschlichem Verhalten" ein Ziel der NSA sei? Welche Belege hat Frau Zeh dafür, dass das ein Ziel von Google sei? Es ist eine pure Unterstellung, für das es keinen Beleg gibt, außer dem offensichtlich von Verschwörungstheorien bestimmten Weltbild von Frau Zeh. 

Wenn man nüchtern darüber nachdenkt, dann könnte man auch auf die Idee kommen, dass es Ziel der NSA ist, nachrichtendienstliche Informationen im Auftrag der amerikanischen Regierung zu sammeln. Diese Ziele werden von der amerikanischen Regierung definiert, und "dank" den Veröffentlichungen von Edward Snowden kann inzwischen jeder Interessierte diese Ziele auch nachlesen. Da steht alles drin, von der Terrorbekämpfung über Atomprogramme, Embargobrüche hin zu klassischer politischer Spionage. Und noch einige andere Dinge mehr. 
Nur: Von "Steuerbarkeit von menschlichem Verhalten" steht da darin nichts.

Was Google angeht, könnte man erst mal auch ganz naiv annehmen, dass es deren primäres Ziel ist, Geld zu verdienen. Und das Geschäftsmodell von Google ist denkbar einfach: Sie präsentieren den Benutzern Suchergebnisse und blenden dabei Werbung ein. Für diese Werbung bekommen sie Geld. Google macht über 90% seines Geldes mit Werbung in Zusammenhang mit der Suchmaschine. Bleiben die Benutzer der Suchmaschine fern, verliert Google Geld. Deshalb macht Google alles dafür, dass die Benutzer der Suchmaschine treu bleiben. Das ist der vorherrschende Gedanke bei allem, was Google tut.
Warum sollte es Ziel von Google sein, Menschen zu steuern? Das wäre doch geradezu irrwitzig. Menschen, die sich gesteuert fühlen, fühlen sich unwohl, und bleiben fern. Und wenn Menschen der Suchmaschine fernbleiben, verliert Google Geld.

Das sind die Fakten. Frau Zeh dagegen versucht, Unterstellungen, die sich auf nichts gründen außer eigenen Phantasien, als Tatsachen zu verkaufen.


Sämtliche Behauptungen, dass eine Verarbeitung der ungeheuren Datenmengen technisch gar nicht möglich sei oder dass sich in Wahrheit niemand für unsere langweiligen Leben interessiere, sind seit Snowdens Enthüllungen obsolet.

Aus welchen der bisherigen Enthüllungen entnimmt Frau Zeh, dass sich die NSA für "unsere langweiligen Leben interessiere"? Alle bisherigen Enthüllungen zeigen ausschließlich Programme, die der zielgerichteten Überwachungen dienen. Sie zeigen auch, das will ich an dieser Stelle gar nicht kleinreden, oft ein massenhaftes, "anlassloses" Sammeln von Daten. Aber ein "sich interessieren" geht über eine bloße Sammelwut hinaus, da wird mir Frau Zeh -- die die Nuancen der deutschen Sprache sicherlich wesentlich besser beherrscht als ich -- bestimmt recht geben. Wo ist also der Beleg für diese Behauptung? Welches der bisher veröffentlichten Dokumente belegt, dass sich die NSA für uns Normalbürger interessiert?

Und was meint Frau Zeh mit "Verarbeitung der ungeheuren Datenmengen"? Vor allem mit "Verarbeitung"? Bisher ist bekannt, dass die NSA ungeheure Datenmengen speichert, die dann durch Analysten manuell durchsucht werden. Das stellt an eine "Verarbeitung" technisch nicht sehr hohe Ansprüche.
Deshalb ist meine Vermutung viel eher, Frau Zeh meint hier eine automatisierte Auswertung durch Algorithmen. Welches der bisher aufgedeckten NSA-Programme arbeitet auf diese Weise? Mir ist keines bekannt.


Internetkonzerne sammeln Informationen und gelangen dabei zu ungeheurer Machtfülle. Geheimdienste greifen diese Informationen nach Belieben ab und nutzen sie für ihre Zwecke.

Dies ist eine Behauptung, die sachlich einfach falsch ist.

Geheimdienste greifen Informationen bei Internetkonzernen nicht “nach Belieben ab”. Auch wenn es vielleicht bei Frau Zeh noch nicht angekommen ist, aber die initiale “Enthüllung”, der behauptete “direkte Zugriff” auf die Internetkonzerne, war nichts weiter als eine große Lüge -- ich ging darauf ja schon weiter oben ein.
Wenn die NSA Zugriff auf Benutzerdaten von Google haben will, dann geht das nur im Einzelfall, und sie muss den dafür vorgesehenen gesetzlichen Weg beschreiten. Das geht nicht “nach Belieben”, das ist ein formaler und bürokratischer Prozess. So wie es ihn in ähnlicher Form in fast allen anderen demokratischen Rechtsstaaten -- auch in Deutschland -- ebenfalls gibt.

Vielleicht meint Frau Zeh aber auch die Enthüllung, nach der die NSA private Leitungen von Google abschöpfte. Aber auch das stellt kein “nach Belieben” dar. Einmal, da es bisher vollkommen unklar ist, inwieweit die NSA die internen Synchronisierungsprotokolle von Google “knacken” konnte. Vor allem aber, da Google inzwischen -- nicht zuletzt auch aufgrund dieser Enthüllung -- die internen Leitungen verschlüsselt. Dieser Weg ist seither für die NSA versperrt.


Als gebildeter Mensch wissen Sie, dass Briefgeheimnis, Post- und Fernmeldegeheimnis, der Schutz von Kommunikation und Privatsphäre wichtige demokratische Errungenschaften sind, für die unsere Vorfahren erbittert gekämpft haben. Durch Edward Snowden wissen Sie auch, dass diese Rechte in der digitalen Sphäre keine Gültigkeit mehr besitzen.

Vorweg, was mich an dieser Formulierung spontan am meisten störte, war der elitäre Wortgebrauch: “Als gebildeter Mensch wissen Sie, dass Briefgeheimnis …”. Ab wann ist man denn gebildet genug, dass man wissen darf, dass das Briefgeheimnis eine wichtige demokratische Errungenschaft ist? (Nebenbei würde ich es eher als eine rechtsstaatliche Errungenschaft bezeichnen, aber sei’s drum) Abitur? Hochschulabschluss? Habilitation? Abgehoben?

Es ist eine vollkommen falsche Behauptung, dass Briefgeheimnis, Privatsphäre etc. “in der digitalen Sphäre keine Gültigkeit mehr besitzen.” Natürlich tun sie das. Sowohl hier bei uns wie auch in den USA. Diese Rechte beschreiben Schutzrechte des Bürgers vor der eigenen Staatsgewalt. Was veranlasst Frau Zeh zu der Behauptung, dass diese Rechte in der digitalen Welt plötzlich keine Gültigkeit mehr haben sollten? Niemand darf in Deutschland einfach so fremde Emails abfangen. Genausowenig wie in den USA. Auch Geheimdienste nicht.
Was richtig ist: Kein Land der Welt nimmt Privatsphäre im Ausland genauso ernst wie im Inland. Hier bilden die USA natürlich keine Ausnahme. Und Deutschland auch nicht. So wissen wir ja auch nicht zuletzt aus den Snowden-Dokumenten, dass der BND massenhaft Daten in Afghanistan erhebt (nebenbei mit gutem Grund!). Was man sich aber fragen kann: Wie kommt Frau Zeh darauf, dass das etwas mit der “digitalen Sphäre” zu tun habe? Das war schon immer so. Jedenfalls seit es Geheimdienste gibt.


Mir will einfach nicht in den Kopf, warum Sie nicht reagieren. Es ist doch kein Zufall, dass in den wichtigsten deutschen Zeitungen ein Beitrag nach dem anderen zum Thema Massenüberwachung erscheint. Dass Radio und Fernsehen unablässig berichten, dass Unmengen von Podiumsdiskussionen stattfinden, Bücher geschrieben, Petitionen lanciert, Vereine gegründet werden. 

Ja, es wird sehr viel geschrieben. Vieles davon sind aber Übertreibungen, Unterstellungen, und auch Lügen. Auch Frau Zeh hat in ihrem Brief jede Menge Übertreibungen, Unterstellungen und unwahre Behauptungen als Tatsachen hingestellt. Wer kann allen Ernstes erwarten, dass man auf dieser Grundlage eine ehrliche und zielgerichtete Diskussion über Privatsphäre im digitalen Zeitalter führen kann?
Wäre nicht ein erster Schritt, einfach mal bei der Wahrheit, bei belastbaren Fakten zu bleiben? Maßlose Übertreibung ist keine Basis für ein vernünftiges Gespräch.


Wollen wir, dass ein Mensch in Gewahrsam genommen wird, weil ein Algorithmus errechnet hat, dass er mit 87 Prozent Wahrscheinlichkeit ein Verbrechen begeht? 

Das ist zwar jetzt “nur” als hypothetische Frage formuliert, zeigt aber in erschreckender Art die Denkweise von Frau Zeh auf -- eine Denkweise, wie man sie in der “digitalen Welt” leider sehr oft vorfindet.

Es müssen keine Gesetze oder Regeln geändert werden, um solche Entwicklungen zu verhindern. Selbst wenn man jetzt mal davon ausgeht, ein solcher Algorithmus wäre jetzt oder in Zukunft möglich (weiter unten beschreibe ich kurz, dass solche Befürchtungen absurd sind): Wir leben glücklicherweise sowohl in Deutschland als auch in den USA in Ländern, in denen ein derartiges Vorgehen ganz klar verfassungswidrig wäre. Nichts muss getan werden, um einen derartigen Missbrauch zu verhindern. Er ist unmöglich. Heute schon.
Diese Frage von Frau Zeh zeigt aber Ihnen, Frau Merkel, ganz klar: Egal was Sie tun, selbst wenn Sie alle Forderungen von Frau Zeh umsetzen, selbst wenn Sie alles ganz genauso machen, wie sie es sich vorstellt -- Sie wird Ihnen trotzdem weiter misstrauen. Sie wird unbeirrt weiter davon ausgehen, dass alles, was technisch möglich ist, auch von demokratischen Rechtsstaaten gegen die eigene Bevölkerung missbraucht werden wird.
Ich sage nicht, dass die Bürger ihrem Staat oder ihrer Regierung blind vertrauen sollten. Keineswegs. Aber wer ein derart fundamentales und radikales Misstrauen in den eigenen demokratischen Rechtsstaat verinnerlicht hat, mit dem wird es auf dem Boden unseres Grundgesetzes eh nie einen gemeinsamen Nenner geben. Diese Leute sind ohnehin erst dann zufrieden, wenn wir eine ganz andere Republik haben.

Und warum ist ein solcher Algorithmus absurd?
Aus vielerlei Gründen. Ich will es hier kurz halten, zu dem Thema alleine ließe sich ein ganzer Aufsatz schreiben. Einerseits da es unmöglich ist, die vielen verschiedenen “digitalen Identitäten” (Email, VoIP, Google, Facebook, Twitter, Foren, Amazon, Ebay, Games, …), die eine reale Person typischerweise hat, zuverlässig und automatisiert miteinander zu verknüpfen. Zweitens, da es schon einen totalitären Staat voraussetzt, der das Recht hat, all diese Informationen zu sammeln und auszuwerten (womit wir wieder bei der Denkweise von Frau Zeh wären …). Und, nicht zu vergessen, der auch die technischen Möglichkeiten dazu hat (wir erinnern uns, selbst Snowden ist der Überzeugung, dass Verschlüsselung funktioniert -- einer der wenigen Punkte, bei dem ich ihm ausdrücklich zustimme).

Drittens aber, und das ist vielleicht der wichtigste Grund: Sobald die Menschen merken, dass ihre Kommunikationen nicht nur ausgewertet, sondern auch gegen sie missbraucht werden, ändern sie natürlich ihr Verhalten. Sie stellen entweder ihre Kommunikationen ein, oder sie kommunizieren anders, mit der Absicht den Algorithmus “hereinzulegen” oder ihn gar zum eigenen Vorteil auszunutzen. Der Algorithmus müsste auch damit umgehen können.

In dem Augenblick, in dem ein solcher Algorithmus zuverlässig funktioniert, wären wir auch in der Lage, ein menschliches Gehirn nachzuprogrammieren. Davon sind wir glücklicherweise noch weit entfernt. Sehr weit.

Wenn jetzt das Argument kommt: “Aber Google weiß doch heute schon fast immer, was ich will”. Ja, da ich Google die Daten freiwillig gebe, um von diesem Komfort zu profitieren. Und die Betonung liegt auf “fast immer”. Google errät auch bei mir sehr oft, was mich gerade interessiert oder wo ich bald hin will. Aber nicht immer. Manchmal bekomme ich völlig uninteressante Werbung präsentiert, und manchmal bekomme ich Ziele angeboten, wo ich gar nicht hin will. Das macht dann ja auch nichts, ich kann das einfach ignorieren. Google kann mich nicht verhaften. Google missbraucht nicht, Google schlägt vor.

Wir benötigen keine fundamental neuen Regeln oder Gesetze. Wir müssen nur weiterhin unser Grundgesetz und unseren demokratischen Rechtsstaat verteidigen. So wie in den letzten -- fast nun schon 70 -- Jahren auch schon.

Mit freundlichen Grüßen, Rolf Weber


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