Sonntag, 6. Oktober 2019

Im Zuge der Aufklärung des “NSA-Untersuchungsausschusses” des Bundestages zu den Tätigkeiten des BND wird von vielen Rechtsexperten die Meinung vertreten, der BND müsse auch bei reinen Ausland-zu-Ausland Kommunikationen das G10-Gesetz einhalten -- was insbesondere bedeuten würde, dass diese reine Auslandsaufklärung auch der Kontrolle durch die G10-Kommission unterliegen würde. Die bisherige Praxis und die Interpretation von Bundesregierung und BND dagegen gehen davon aus, dass G10 nur gilt, wenn mindestens einer der Kommunikationsteilnehmer Deutscher ist oder sich in Deutschland aufhält.
Die Argumentation der Rechtsexperten bezieht sich u. a. auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1999 (im folgenden “G10-Urteil” genannt), in welchem die damalige Praxis des BND zur strategischen Aufklärung weitgehend bestätigt wird.

Diese Argumentation ist unhaltbar. Sie zitiert das G10-Urteil einseitig und selektiv, und geht von falschen Voraussetzungen aus. Das wird im folgenden detailliert erläutert.
Das muss nicht bedeuten, dass die Auffassung der Rechtsexperten gänzlich haltlos ist. Andere, mehr rechtstheoretischere Argumentationen über die räumliche Gültigkeit des Grundgesetzes mögen zutreffend sein; dies fachlich zu beurteilen fehlt mir die juristische Kompetenz. Aber es lässt sich nicht mit dem G10-Urteil begründen; um dieses zu lesen und zu verstehen, muss man kein Rechtsexperte sein.



Zunächst zu diesem  Blogbeitrag von Thomas Stadler, in dem er folgendes sagt:

Das BVerfG hat bereits 1999 entschieden, dass das Fernmeldegeheimnis des Art. 10 GG jedenfalls dann gilt, wenn ausländischer Fernmeldeverkehr mit Überwachungsanlagen aufgezeichnet wird, die sich auf deutschem Boden befinden. In der letzten Entscheidung des BVerfG zum G 10 heißt es ganz ausdrücklich:

Und zitiert dann das G10-Urteil:

Dabei wird bereits durch die Erfassung und Aufzeichnung des Telekommunikationsverkehrs mit Hilfe der auf deutschem Boden stationierten Empfangsanlagen des Bundesnachrichtendienstes eine technisch-informationelle Beziehung zu den jeweiligen Kommunikationsteilnehmern und ein – den Eigenarten von Daten und Informationen entsprechender – Gebietskontakt hergestellt. Auch die Auswertung der so erfaßten Telekommunikationsvorgänge durch den Bundesnachrichtendienst findet auf deutschem Boden statt. Unter diesen Umständen ist aber auch eine Kommunikation im Ausland mit staatlichem Handeln im Inland derart verknüpft, daß die Bindung durch Art. 10 GG selbst dann eingreift, wenn man dafür einen hinreichenden territorialen Bezug voraussetzen wollte.

(…)

Die Überwachung und Aufzeichnung internationaler nicht leitungsgebundener Telekommunikationen durch den Bundesnachrichtendienst greift in das Fernmeldegeheimnis ein.

Und schliesst dann daraus:

Es ist also bereits eindeutig entschieden, dass Art. 10 GG zumindest dann gilt, wenn die Erfassung, Aufzeichnung und Auswertung der TK-Vorgänge auf deutschem Boden stattfinden.

Was Thomas Stadler mit “(...)” wegließ, das ist der unmittelbar darauf folgende Satz (Hervorhebung von mir):

Über geheimdienstliche Tätigkeiten, die nicht dem G 10 unterliegen, ist hier ebensowenig zu entscheiden wie über die Frage, was für ausländische Kommunikationsteilnehmer im Ausland gilt.

Das Bundesverfassungsgericht sagt damit also ausdrücklich, dass in diesem Urteil nicht über Ausland-zu-Ausland Kommunikationen entschieden wird.


Matthias Bäcker schreibt in seiner Stellungnahme für den "NSA-Untersuchungsausschuss":

Weiter hat das Bundesverfassungsgericht zwar ausdrücklich nicht darüber entschieden, „was für ausländische Kommunikationsteilnehmer im Ausland gilt.“ Jedoch ist die Antwort auf diese Frage trivial, wenn ein überwachter Telekommunikationsvorgang überhaupt dem Fernmeldegeheimnis unterfällt. Denn Art. 10 GG enthält ein Jedermannsgrundrecht. Ist der sachliche Schutzbereich dieses Grundrechts eröffnet, so kommt es für den Grundrechtsschutz auf die Staatsangehörigkeit der Kommunikationsteilnehmer bei natürlichen Personen ebenso wenig an wie auf den Aufenthaltsort.

Er erkennt also durchaus an, dass das Bundesverfassungsgericht gar nicht über eine fragliche Ausland-zu-Ausland Kommunikation entschied, meint aber, die Antwort wäre trivial, da das Bundesverfassungsgericht ja einen Satz zuvor behauptet hätte, jede Kommunikation würde unter G10 fallen, solange das Abhören oder die Auwertung auf deutschem Boden stattfindet.
Dies ist jedoch aus vielen Gründen ein unzulässiger Rückschluss:

Erstens, warum betont das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich, dass es hier nicht über Ausland-zu-Ausland Kommunikationen entscheidet, wenn es das doch angeblich feststellte bzw. der Rückschluss darauf trivial sei?

Zweitens, das Urteil beschäftigt sich ausschließlich mit Klägern, die entweder Deutsche im In- oder Ausland sind oder Deutsche im Ausland. Nicht mit Ausländern im Ausland. Vor diesem Hintergrund sind auch die Randnummern 173 bis 176 zu lesen. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass es für diese Personen keinen Territorialbezug zu Deutschland geben muss. Das heißt, deren Kommunikationen fallen immer unter G10, egal ob diese im In- oder Ausland abgefangen werden. Es wird aber ausdrücklich nichts über Ausländer im Ausland gesagt.

Drittens spricht auch ein Leitsatz zu dem G10-Urteil eine eindeutige Sprache (Hervorhebungen von mir):

Der räumliche Schutzumfang des Fernmeldegeheimnisses ist nicht auf das Inland beschränkt. Art. 10 GG kann vielmehr auch dann eingreifen, wenn eine im Ausland stattfindende Telekommunikation durch Erfassung und Auswertung im Inland hinreichend mit inländischem staatlichem Handeln verknüpft ist.

Das Bundesverfassungsgericht sagt auch hier eindeutig nicht, dass schon eine “Erfassung und Auswertung im Inland” genügt, sondern als weitere Bedingung muss die Kommunikation auch einen Inlandsbezug haben. Außerdem wird dieser Leitsatz auch mit “kann” eingeschränkt.


Viertens, da das Bundesverfassungsgericht die Klage eines Ausländers im Ausland nicht annahm:

Dagegen hat der Beschwerdeführer zu 2b) eine eigene unmittelbare Betroffenheit durch die von ihm angegriffenen gesetzlichen Bestimmungen nicht ausreichend dargelegt. Er ist uruguayischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Uruguay. Nach seinem Vortrag betreut er während der Abwesenheit der Beschwerdeführerin zu 2a) deren Fernmeldeverkehr. Ohne Angabe weiterer Einzelheiten geht daraus nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit hervor, daß er durch Maßnahmen, die sich auf die angegriffenen Bestimmungen stützen, in seinen Grundrechten berührt wird.

Der Kläger -- ein Ausländer im Ausland -- konnte demnach nicht darlegen, dass die BND-Maßnahmen seine (deutschen) Grundrechte berühren. Ob es daran liegt, dass er es schlecht begründete, oder dass er zuwenig Deutschlandbezug nachweisen konnte, oder ob G10 bei Ausländern im Ausland nie Anwendung finden kann, ließ das Bundesverfassungsgericht damit (bewusst?) offen. 

Und genau das ist der entscheidende Punkt, es ist und bleibt eine offene Frage. Keinesfalls aber kann man folgern, das G10-Urteil alleine würde die Kommunikationen von Ausländern im Ausland unter G10 stellen, solange nur Erfassung oder Bearbeitung im Inland erfolge.
Gefällt demnach jemandem die gegenwärtige Auslegung der Bundesregierung nicht, so kann er nur entweder für eine gesetzliche Klarstellung werben, oder einen Ausländer im Ausland finden, der eine entsprechende Klage vor dem Bundesverfassungsgericht einreicht -- und hier wird die erste riesengroße Hürde schon sein, dass die Klage überhaupt angenommen wird …


Noch ein Wort zur “Weltraumtheorie”, da es hierzu oft Missverständnisse gibt. Die BND-Führung besteht nicht wegen G10 darauf, dass das eine Erhebung im Ausland ist. An G10 muss sich der BND ohnehin halten, sofern einer der Kommunikationsteilnehmer Deutscher ist oder sich in Deutschland aufhält -- hier ist das G10-Urteil eindeutig, wie oben gezeigt.
Es geht dem BND vielmehr um das BND-Gesetz, das nur auf deutschem Boden gilt, und das strenge Anforderungen an die Weitergabe von Daten an ausländische Dienste aufstellt. 



Warum G10 bei der Überwachung von Ausländern im Ausland nicht greift
(original gepostet 17.12.2014 auf Google+)

Abschließend noch ein paar zusätzliche Anmerkungen zu dem G10-Urteil, das ich inzwischen komplett durchlas. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte damit in weiten Teilen die damalige Überwachungspraxis des BND -- und nach meinem Eindruck müsste das Bundesverfassungsgericht schon eine 180 Grad Wende vollziehen, sollte es die derzeitige Praxis, wie sie durch die Zeugenaussagen im “NSA-Untersuchungsausschuss” erkennbar ist, für in weiten Teilen unvereinbar mit dem Grundgesetz halten. Die Kernaussage des Urteils, so wie es sich für mich darstellt, ist dass die Überwachungsmaßnahmen des BND mit dem Grundgesetz vereinbar sind, solange die Datenerfassung ausreichend weit von einer Totalerfassung entfernt ist, und solange die erhobenen Daten nur zweckgebunden zur Auslandsaufklärung verwendet werden. Beides ist nach meinem Eindruck auch heute absolut gegeben.

In diesem Zusammenhang auch folgendes Zitat aus dem G10-Urteil:

Eingriff ist daher schon die Erfassung selbst, insofern sie die Kommunikation für den Bundesnachrichtendienst verfügbar macht und die Basis des nachfolgenden Abgleichs mit den Suchbegriffen bildet. An einem Eingriff fehlt es nur, soweit Fernmeldevorgänge zwischen deutschen Anschlüssen ungezielt und allein technikbedingt zunächst miterfaßt, aber unmittelbar nach der Signalaufbereitung technisch wieder spurenlos ausgesondert werden.

Als während den Anhörungen im “NSA-Untersuchungsausschuss” deutlich wurde, dass der BND auch bei Glasfaserüberwachungen kurzfristig eine Kopie sämtlicher Daten erstellen muss, wurde argumentiert, er würde damit schon ungesetzlich handeln. Das G10-Urteil dagegen stellt eindeutig fest, dass dem nicht so ist -- entscheidend sind nur die Daten, die auch in einer Datenbank landen, welche selektiert werden kann. 

Und dieses Zitat stellt klar, dass es immer zu unterscheiden gilt zwischen Daten, die der BND bloß besitzt, und solchen, die er tatsächlich verwendet:

Dieser Schutz kann allerdings erst nach der staatlichen Kenntnisnahme von Daten und Informationen, die mittels Fernmeldeüberwachung erlangt worden sind, einsetzen. Denn vor der Kenntnisnahme fehlt es dem Bundesnachrichtendienst angesichts der ungezielten Erfassung an der Möglichkeit festzustellen, daß es sich um pressebezogene Kommunikationen handelt, und folglich auch an der Möglichkeit, die spezifischen Schutzwirkungen der Pressefreiheit zu beachten. Dagegen ist dieses Grundrecht bei der Speicherung, Verwertung und Weitergabe von Daten und Informationen zu berücksichtigen.

Für das Bundesverfassungsgericht ist es also keine unerträgliche Vorstellung, wenn der BND Daten besitzt, die er eigentlich nicht besitzen dürfte, solange sichergestellt ist, dass er diese löscht, sobald er es feststellt.

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