Sonntag, 6. Oktober 2019

Netzneutralität - technische Grundlagen, Folgerungen

Einleitung


Das Thema Netzneutralität war schon immer ein Lieblingskind der sogenannten "Netzaktivisten". Nun, da sich auch Barack Obama öffentlich für eine Netzneutralität aussprach, ist das Thema wohl endgültig auch im Mainstream angekommen.

Die technischen Grundlagen für das Thema sind hochgradig komplex. Das fängt schon bei der Frage an, was mit Netzneutralität eigentlich genau gemeint ist, an welchen Stellen sie greifen soll, und welche Handlungen ein (unerwünschter) Verstoss gegen sie wären.

Ich will versuchen, hier eine Gratwanderung zu machen: Einerseits die technischen Grundlagen zumindest soweit rüberzubringen, wie es meines Erachtens für eine Meinungsbildung mindestens notwendig ist, es aber andererseits auch für Nicht-Techniker einigermaßen verständlich bleibt. Einige Dinge, deren korrekte technische Erläuterung sehr aufwendig wäre, ohne dass sie für das grundlegende Verständnis hilfreich sind -- wie z. B. “RED” (Random Early Detection) --, habe ich deshalb weggelassen. Auch andere Dinge mögen nicht 100% korrekt bzw. vollständig sein. Technikfreaks mögen es mir nachsehen. Aber man kann es nicht oft genug wiederholen, die technischen Grundlagen sind hochgradig komplex. Es soll Leute geben, die ganze Bücher darüber schreiben. Das ist aber nicht der Sinn und Zweck dieses Artikels.


Technische Grundlagen


Die technischen Grundlagen kann man grob in zwei Themengebiete aufteilen: Zuerst der Ort, an dem eine Netzneutralität greifen bzw. "verletzt" werden kann, und dann die technischen Mittel, mit denen dies geschieht -- in der Fachsprache nennt man es QoS ("Quality of Service").

Zur Verdeutlichung ein Schaubild:

netneutrality.jpg


Man sieht, wie im Internet üblicherweise Kommunikationen stattfinden. Da haben wir einen Benutzer, den wir "Consumer" nennen. Dieser ist über einen Provider mit dem Internet verbunden, hier der "Consumer-Provider". Der Benutzer ruft Inhalte (Videos, Musik, News, ...) ab, die auf einem Server bereitgestellt werden, der "Content-Server". Dieser Server steht bei einem Provider namens "Content-Provider". Dazwischen ist dann die große Wolke Internet, die die Daten zwischen Benutzer und Server transportiert. Sie besteht aus sehr vielen sogenannten Transitprovidern, die wir hier einfach mit "AS1" ("Autonomous System"), "AS2" usw. durchnummerieren. Die Transitprovider sind als ein dynamisches, ungeordnetes Netz miteinander verbunden, und sie sind sowohl gegenseitig aufeinander angewiesen als auch Wettbewerber.

Netzneutralität ist, ganz grob, dass Internetprovider alle Kommunikationen gleich behandeln sollten, und nicht eine gegenüber einer anderen (unterschieden entweder anhand des Dienstes oder des Teilnehmers) benachteiligen oder gar blockieren.
An dem Schaubild erkennt man, dass es nicht die "eine" Netzneutralität gibt. Netzneutralität kann an vielen Stellen "verletzt" werden: Entweder auf der “letzten Meile” zum Consumer, dem Consumer-Provider (diese beiden werden oft miteinander vermengt), beim Content-Provider, oder irgendwo dazwischen.


Bevor wir mit den einzelnen Stellen weiter machen, benötigen wir einige technische Grundlagen, wie eine "Diskriminierung" von Netzwerkkommunikationen tatsächlich umgesetzt wird, und was dessen Vorteile und Limitierungen sind:

Klassisches Routing im Internet erfolgt nach dem "best effort" Prinzip. 
netzneut1.jpg

Netzwerkkommunikationen werden in einzelnen Paketen verschickt. Erreichen die Pakete Router, schreibt der Router diese zuerst in eine Warteschlange, und diese Warteschlange wird nach dem "FIFO" ("First In, First Out") Prinzip abgearbeitet: Pakete verlassen den Router in der gleichen Reihenfolge, in der sie ankamen. Wird eine Leitung überlastet, auf der der Router Pakete versenden will, so kann der Router weniger Pakete versenden als gleichzeitig herein kommen, und die Warteschlange füllt sich. Ist die Warteschlange voll, so verwirft der Router ankommende Pakete, und die davon betroffenen Kommunikationen werden gestört (wie sich die Störung auswirkt, das hängt von der Art der Kommunikation ab -- dazu weiter unten mehr).

An dieser Stelle kommt dann QoS in's Spiel. Ein Router, der QoS macht, hat nicht nur eine Warteschlange, sondern mehrere.

netzneut2.jpg

Die Pakete werden in verschiedenen Warteschlangen eingeordnet, nach beliebigen Kriterien, wie z. B. nach dem genutzten Dienst oder dem Teilnehmer. Und die Warteschlangen werden nach einer definierten Reihenfolge abgearbeitet: Entweder alle Warteschlangen gleichberechtigt nacheinander (was nicht gleichbedeutend mit "best effort" ist, denn die Warteschlangen können unterschiedlich gefüllt sein), oder gewisse Warteschlangen haben Vorrang vor anderen. Man kann dadurch fast beliebige Zielvorgaben einstellen. So lässt sich zum Beispiel definieren, dass ein bestimmter Teilnehmer eine bestimmte Bandbreite garantiert hat, oder eine maximale Bandbreite, die entweder nie überschritten werden darf oder nur solange noch genügend Bandbreite im Backbone vorhanden ist. Das gleiche auch entsprechend für Dienste. Nur eines kann QoS nicht, das ist zaubern. Es kann nicht mehr an Bandbreite verteilen als physikalisch da ist. Hat man eine Leitung von 100 MBit/s, und drei Teilnehmer, denen man jeweils 40 MBit/s zuweist, dann wird es Störungen geben, wenn alle drei gleichzeitig an ihr Limit gehen.

Welche spürbaren Auswirkungen haben diese QoS-Einstellungen?

Keine, solange genügend Kapazität auf der Leitung zur Verfügung steht. Die Pakete verlassen den Router zwar in anderer Reihenfolge als sie herein kamen, aber die Verweildauer auf dem Router hat kaum einen Einfluss auf die Gesamtlaufzeit des Paketes (es sei denn, eine Warteschlange wurde auf eine maximale Bandbreite limitiert, selbst wenn mehr zur Verfügung stünde). Solange man genügend Bandbreite hat, kann man auch nach "best effort" routen, und niemand merkt es.

Spannend wird es, wenn die Bandbreite zur Neige geht. Dann laufen Warteschlangen voll, und der Router beginnt Pakete zu verwerfen. Und hier erwischt es zuerst die Pakete, denen die geringste Priorität zugeordnet wurde. Das ist ein ganz wichtiger Punkt für das Verständnis, der leider oft nicht gesehen wird: Bei QoS werden weniger gewisse Kommunikationen bevorteilt, sondern das Konzept beruht darauf, dass welche benachteiligt werden -- die, deren Pakete ein Router zuerst verwirft. 

Was geschieht, wenn ein Paket einer Kommunikation verworfen wird?

Das hängt von der Kommunikation ab.
Handelt es sich dabei um eine Echtzeitanwendung wie z. B. ein Telefongespräch, dann bleibt das Paket verworfen. Es lohnt sich nicht und wäre auch kontraproduktiv, ein solches verlorenes Paket nochmal zu senden. Es ist verloren, die Benutzer bemerken einen Aussetzer, danach geht es weiter. 

Die meisten Anwendungen im Internet sind aber keine Echtzeitanwendungen, sondern es muss ein definierter Datenbestand von der Quelle zum Ziel transportiert werden -- sei das beim Surfen, Streamen oder dem Versand einer Email. Und hier bleibt es nicht beim Verwerfen eines Paketes, sondern das Paket muss erneut versendet werden. Und falls eine komplette Verbindung gestört wurde, muss diese neu aufgebaut werden, und alle zuvor schon versandten Pakete müssen erneut übertragen werden. Und das ist ein entscheidender Punkt: Wird QoS aufgrund fehlender Bandbreite aktiv, so müssen effektiv mehr Daten übertragen werden, und es besteht die Gefahr, dass sich die Situation "hochschaukelt" und immer mehr kollabiert. 

Hinzu kommt hier auch der "menschliche Faktor". Sicher nicht bei einer Email, da diese von einer Maschine übertragen wird. Aber was macht ein typischer Benutzer, wenn eine Webseite nicht schnell genug öffnet? Refresh ... Refresh ... Refresh … Auch dies bedingt, dass letzten Endes erheblich mehr Daten übertragen werden als eigentlich notwendig -- und es sich weiter "hochschaukelt".

Was folgt daraus?
QoS ist vollkommen ungeeignet, einen dauerhaften Bandbreitenengpass sinnvoll abzufedern. Die "benachteiligten" Dienste würden alle kollabieren und wären nicht mehr sinnvoll nutzbar. QoS kann dagegen sehr sinnvoll sein, wenn man sicherstellen will, dass bei temporären Leitungsüberlastungen gewisse Dienste noch funktionieren. Internettelefonie ist hierfür ein griffiges Beispiel. Ein mehr technisches sind Routingprotokolle (wenn diese aufgrund der Last zusammenbrechen, dann geht ohnehin nichts mehr).
Das ist jedenfalls ein ganz wichtiger technischer Hintergrund, den man bei der Diskussion um Netzneutralität immer im Hinterkopf haben sollte: QoS schützt nicht vor einem de facto Kollaps bei chronischen Netzwerkengpässen.

Ein weiterer wichtiger Punkt, den man zu QoS wissen muss, ist dass man damit eigentlich nur ausgehende Daten beeinflussen kann, keine eingehenden. Auch hierzu ein Schaubild:

netneutrality2.jpg

Ein Router kann nur bestimmen, in welcher Reihenfolge er Pakete versendet, nicht aber in welcher er sie empfängt. Auf QoS bezogen heißt dies, dass auf dem Kundenrouter die für den Kunden ausgehenden Pakete reguliert werden können, auf dem Providerrouter die eingehenden. Üblicherweise nutzen Privatkunden mehr eingehende Dienste (Webserver, Streaming, …), weshalb bei ADSL die eingehende Bandbreite auch immer deutlich höher ist als die ausgehende.
Bei der Internetkommunikation kommt überwiegend TCP (“Transmission Control Protocol”) zur Anwendung, ein verbindungsorientiertes Protokoll, das Mechanismen hat, sich mit seinem Bandbreitenverbrauch an die zur Verfügung stehende Bandbreite anzupassen. Deshalb ist es bei TCP möglich, auch auf dem Kundenrouter den eingehenden Datenfluss (eingeschränkt) zu beeinflussen.
Aber nicht alles ist TCP. Es ist nicht unüblich, dass ein vom Provider angebotenes Streaming per Multicast verteilt wird (die Telekom macht das beispielsweise mit ihrem Entertain Produkt), und das ist nicht TCP. Hier hat nur der Providerrouter die Möglichkeit, den Datenfluss zu beeinflussen. (Multicast ist nicht netzübergreifend möglich, d. h. nur der eigene Provider kann es seinem Kunden anbieten, nicht aber ein beliebig platzierter Internetserver; Multicast hat den Vorteil, dass es im Netzwerk des Providers große Datenmengen einsparen kann.)


Dies war ein kurzer technischer Abriss über QoS. Erwähnt seien noch zwei andere technische Massnahmen, die ebenfalls oft zu Netzneutralität gezählt werden (und die technisch wesentlich einfacher verständlich sind): Da ist einerseits das Blocken, also die vollständige Unterbindung gewisser Kommunikationen. Und da ist das sogenannte "zero-rating", bei dem die Pakete ähnlich ausgewählt und matkiert werden wie bei QoS, aber nicht um sie mit unterschiedlicher Priorität zu routen, sondern um sie bei der Berechnung des Datenverbrauchs des Kunden auszunehmen. Weiter unten dazu mehr. 


Praktische Beispiele


Zurück zum Schaubild, QoS bzw. "Verletzung der Netzneutralität" kann an vier Stellen auftreten, beim Consumer-Provider und der “letzten Meile”, beim Content-Provider, oder irgendwo dazwischen. Schauen wir es uns der Reihe nach an:

Bei dem Consumer-Provider und auf der “letzten Meile”


Eigentlich sind beide grundverschieden. Da sie aber in der Diskussion oft miteinander vermengt werden -- was dann mit zur Verwirrung beiträgt --, werden sie auch hier in einem gemeinsamen Abschnitt behandelt.
Der wesentliche Unterschied besteht darin, wo in der Praxis üblicherweise Bandbreitenengpässe auftreten, und das ist so gut wie immer die “letzte Meile” zum Kunden hin. Wie wir oben gesehen haben, kann ein Provider sein Netzwerk nicht dauerhaft überbuchen, ohne dass es vollständig kollabiert. Der Provider bedient auch sehr viele Kunden, so dass sich die Gesamtbandbreite gegenseitig ausgleicht, und sich relativ leicht beobachten und vorausberechnen lässt. Dagegen ist die “letzte Meile” ausschließlich vom aktuellen Nutungsverhalten eines einzigen Endkunden abhängig, und die Bandbreite ist sehr viel kleiner als die des Backbone des Providers.

Aber Schritt für Schritt.

Grundsätzlich hätte der Consumer-Provider mit QoS nur dann einen durchgängigen Einfluss, wenn der Consumer auf einen Server zugreift, der ebenfalls beim Consumer-Provider platziert ist. Das ist wohl nur sehr selten der Fall (es sei denn der Content-Provider setzt eine Form von "CDN" ("Content Delivery Network") mit einem beim Consumer-Provider platzierten Server ein, dazu weiter unten mehr) Üblicherweise greift ein User aber auf Inhalte zu, die “irgendwo im Internet” stehen, wie hier bei dem Content-Provider. Der Einfluss des Consumer-Providers auf die Kommunikation zwischen Consumer und Content-Server endet also da, wo die Pakete sein Netzwerk verlassen.

Was kann der Consumer-Provider also alles tun?

Zuerst mal das, was von den Teufel-an-die-Wand-Malern immer wieder prophezeit wird: Er kann sein Netz hoffnungslos überbuchen (also weniger Kapazität bereitstellen als tatsächlich benötigt würde), und seinen Kunden dann anbieten, sie gegen einen Aufpreis höher zu priosieren. Nur, dann würde das passieren, was oben geschildert wurde: Die nicht-priorisierten Kommunikationen würden total kollabieren. Man kann kein permanentes Bandbreitenproblem mit QoS lösen. Die nicht-priorisierten Kunden wären hochgradig unzufrieden, würden den Anbieter wechseln und mit einer fristlosen Kündigung höchstwahrscheinlich jeden Prozess gewinnen (da ihre Anbindung de facto unbrauchbar ist). Meines Wissens hat es so einen (oder so ähnlichen) Fall in der Praxis auch noch nie gegeben.

Der Consumer-Provider kann auch etwas tun, was heutzutage auch bei den Mobilfunkanbietern gängige Praxis ist: Die Kunden kaufen "flat" ein definiertes monatliches Übertragungsvolumen, und wird dies überschritten, dann wird der Kunde auf eine wesentlich niedrigere Bandbreite herunter gedrosselt. Aber ist das wirklich eine schlechte Sache? Wäre es besser, wenn der Consumer-Provider dem Kunden den Mehrverbrauch am Ende des Monats in Form einer deftigen Rechnung präsentiert (so wie es früher nicht unüblich war)? Das übertragene Datenvolumen ist für einen Provider ein wichtiger Kostenfaktor, so dass diese Form von QoS durchaus als eine faire Lösung für beide Seiten erscheint.

Weiterhin kann der Consumer-Provider etwas tun, das auch heute schon bei gewerblichen Festverbindungen nicht unüblich ist. Hierzu muss man wissen, dass die Kosten einer Leitung zum Kunden oft kaum von deren physikalischer Bandbreite abhängt. So macht es in vielen Fällen wenig Unterschied, ob der Provider zum Endkunden eine symetrische 10 MBit/s, 100 MBit/s oder gar 1 GBit/s legt. Bestellt ein Kunde beispielsweise 10 MBit/s, so ist es nicht unüblich, wenn der Provider physikalisch 100 MBit/s legt, aber per QoS auf 10 MBit/s herunter drosselt. Für den Kunden hat das den Vorteil, dass ihm bei Bedarf schnell die Bandbreite erhöht werden kann. Ist das ein Fall für Netzneutralität? Oder der Provider bietet ihm an, dass er gegen einen Aufpreis die zugesicherten 10 MBit/s überschreiten darf, aber nur solange der Provider genügend freie Bandbreite hat. Per QoS ist das problemlos einstellbar. Und was ist schlecht daran? Ist das etwa ein unerwünschter Verstoß gegen Netzneutralität? 

Ein weiteres Beispiel für Netzneutralität im Endkundengeschäft: WLAN im Flugzeug für die Fluggäste findet immer mehr Verbreitung. Das Problem dabei aber ist die limitierte Bandbreite. Ein einziger Benutzer könnte durch exzessive Nutzung das Netz für alle unbenutzbar machen -- und wenn er entsprechend wohlhabend ist, stören ihn nicht mal horrende Volumenpreise. Verhindern -- und damit allen Benutzern einen fairen Anteil an den begrenzten Ressourcen sichern -- kann man nur mit den Hilfsmitteln QoS und Blocken. Ein Fall für die Netzpolizei?

Weiter oben wurde bereits das sogenannte "zero-rating" angesprochen. Damit ignoriert der Provider gewisse Pakete bei der Berechnung des Datenverbrauchs, das dem Kunden berechnet wird. Ein Einsatzzweck ist beispielsweise, dass ein Provider eine Kooperation mit einem Streaming-Dienst eingeht, und diesen dadurch seinen Kunden schmackhaft macht, denn der Datenverkehr mit diesem Dienst wird nicht in Rechnung gestellt bzw. nicht auf das monatliche Datenvolumen angerechnet. 
Aber ist das ein Verstoss gegen Netzneutralität? Doch wohl kaum, denn technisch wird niemand bevor- oder benachteiligt. Auch die Wettbewerber des Streamingdienstes nicht. Was natürlich in Betracht kommt ist, dass es ein Fall für das Kartellrecht ist, falls einer der Beteiligten damit seine marktbeherrschende Stellung missbraucht.
Auf der anderen Seite kann aber "zero-rating" durchaus den Wettbewerb beleben. Große Provider können Streamingdienste in ihrem eigenen Netzwerk aufbauen und ihren Kunden ohne Berechnung der verbrauchten Bandbreite zur Verfügung stellen. Viele kleinere Wettbewerber können dies nicht. Was spricht dagegen, wenn diese deshalb Kooperationen eingehen, und damit gegenüber den Großen wettbewerbsfähig bleiben?
In Deutschland stellt sich dieses Problem derzeit ohnehin nicht, jedenfalls nicht beim Festnetz, da fast alle Endkunden Flatrates haben. 2013 spielte die Telekom mit dem Gedanken, Eine Volumenbegrenzung (mit Drosselung nach Überschreitung) für ihre DSL-Tarife einzuführen, gleichzeitig aber ihre eigenen Streamingdienste von der Berechnung auszunehmen. Nach einem Proteststurm und der Androhung, die Regulierungsbehörden einzuschalten, nahm die Telekom wieder Abschied von dem Gedanken -- ganz ohne dass eine gesetzliche Regulierung notwendig war.

Ein konkretes Beispiel für eine sicherlich unerwünschte Verletzung der Netzneutralität ist das, was der amerikanische Provider Comcast vor einigen Jahren tat: Durch gezieltes oder wahlloses (die genauen technischen Umstände sind nicht ganz geklärt) Blockieren von bestimmten P2P-Datenverkehr wurde dieser Dienst für die Benutzer stark herunter gebremst oder gar unbenutzbar. An dieser Stelle muss man auch wissen, dass der amerikanische Endkundenmarkt weniger Wettbewerb bietet als beispielsweise der deutsche (bei dem die Telekom verpflichtet ist, die "letzte Meile" auch Wettbewerbern zur Verfügung zu stellen) -- viele der Comcast-Kunden hatten also nicht die Möglichkeit, als Reaktion zu einem anderen Anbieter zu wechseln. Aber die amerikansiche Regulierungsbehörde FCC leitete diesbezüglich Ermittlungen ein, in deren Zuge Comcast sein Verhalten wieder aufgab.


Soweit ein kurzer Abriss über die Möglichkeiten, die der Provider in seinem eigenen Backbone mit QoS hat (es liessen sich einige mehr aufzeigen). In der aktuellen Diskussion um “Spezialdienste” (siehe auch das Positionspapier der Bundesregierung zur Netzneutralität) geht es fast ausschließlich um die Netzneutralität auf der “letzten Meile”, auch wenn das aus der Formulierung leider nicht eindeutig deutlich wird. Die Formulierung, dass "Spezialdienste" nur bei ausreichender Netzkapazität erbracht werden dürften, lässt nur diesen Schluss zu -- denn wie oben erläutert, kann der Provider seinen Backbone ohnehin nicht zu Lasten des “normalen” Internetverkehrs überbuchen, ohne diesen regelmäßig kollabieren zu lassen.

Da die “letzte Meile” auch der Ort ist, an dem ein Engpass am wahrscheinlichsten auftritt, macht genau hier QoS am meisten Sinn. Wenn der Kunde “Spezialdienste” nutzt, die eben besondere Ansprüche an Antwortverhalten und/oder Bandbreite stellen, dann wird es auch im Interesse des Kunden sein, dies auch genau so auf seiner “letzten Meile” einzustellen.
Und nun darf man sich die Frage stellen, warum der Gesetzgeber ausgerechnet hier in die Vertragsfreiheit zwischen Kunden und Provider eingreifen will? Welche Anzeichen sprechen dafür, dass die Provider ihre Macht missbrauchen, und dass hier weder Wettbewerb noch die Wettbewerbshüter funktionieren?

Bei dem Content-Provider


Betrachtet man die Seite des Content-Provider, so kann dieser per QoS mit dem Content-Server prinzipiell auch all das einstellen, was der Consumer-Provider mit dem Consumer machen kann. Allerdings kommen diese in der Praxis so gut wie nicht vor. Das liegt an verschiedenen Faktoren: Der Wettbewerb ist ausgeprägter als beim Endkundengeschäft, denn der Betreiber des Content-Server kann üblicherweise unter vielen Anbietern wählen (was insbesondere daran liegt, dass die "letzte Meile" fehlt, die Content-Server stehen in fertig ausgebauten Rechenzentren). Auch ist die Wahrscheinlichkeit wesentlich höher, dass sich ein gewerblicher Betreiber juristisch erfolgreich gegen eine "Willkür" des Providers wählt, als das typischerweise bei Endkunden der Fall ist.

Die Betreiber des Content-Server haben üblicherweise ein ganz anderes Problem als ihren eigenen Provider. Der Engpass liegt in den seltensten Fällen hier, sondern irgendwo auf dem Weg zum Endkunden. Deshalb gehen viele den Weg eines oben schon erwähnten CDN, mit dessen Hilfe die Inhalte auf Servern gespiegelt werden, die möglichst nahe am Endkunden liegen. Viele (vor allem große) Content-Provider machen das selbst, andere greifen auf kommerzielle Dienste wie die von Akamai zurück.

Irgendwo dazwischen


Ein weiterer Ort, an dem die Netzneutralität “verletzt” werden könnte, ist irgendwo zwischen Consumer und Content-Server, im großen weiten Internet, bei einem der sogenannten Transit-Provider. Üblich ist das allerdings nicht, üblicherweise arbeiten die hier beteiligten Router alle nach dem “best effort” Prinzip.

Vor einiger Zeit machte der Streit zwischen dem amerikanischen Provider Comcast (der gleichzeitig Consumer- und Transit-Provider ist; als wäre die Thematik nicht schon unübersichtlich genug …) und dem amerikanischen Streaming-Anbieter Netflix auf sich aufmerksam. Die Comcast-Benutzer beschwerten sich dabei über schlechte Zugriffe auf das Netflix-Streaming (ruckelige Bilder und Abbrüche). Comcast und Netflix beschuldigten sich gegenseitig, an den Engpässen verantwortlich zu sein.
Ob daran tatsächlich Engpässe irgendwo zwischen Comcast und Netflix schuld waren, oder ob Comcast Netflix in seinem Netzwerk herunter drosselte, darüber gibt es keine verlässlichen Informationen. Es ist also nicht klar, ob hier eine “Verletzung der Netzneutralität” oder ein “normaler” Engpass die Ursache war.
Comcast und Netflix einigten sich schließlich darauf, das Problem mit einer direkten Netzkopplung zu lösen, für die Netflix bezahlte (für einen Betrag, den weder Comcast reich noch Netflix arm machte). Eigentlich ein ganz normaler Vorgang.

[Update 17.04.2015]
Ein ähnlicher Fall wie zwischen Comcast und Netflix wird derzeit in Deutschland zwischen der Telekom und Init7 diskutiert (den Standpunkt von Init7 kann man hier nachlesen, den der Telekom hier). Unterschiede sind einerseits, dass Init7 Transitprovider ist, nicht wie Netflix Content-Provider. Andererseits steht bei diesem Fall nicht der Vorwurf im Raum, dass die Telekom Pakete unterschiedlich behandelt. Man kann das also drehen oder wenden wie man will, hier geht es in keinster Weise um eine Verletzung der Netzneutralität. Und dass man den Begriff der Netzneutralität derart aufbläht, dass man darunter auch die Verpflichtung versteht, überlastete Leitungen auszubauen, das wäre höchst bedenklich, sowohl rechtlich als auch rein praktisch: Denn schließlich geht es hier meist um Leitungen zwischen zwei Providern, die sich gegenseitig die Schuld zuschieben können, und die auch oft unterschiedlichen Rechtshoheiten unterliegen.

Es geht bei diesem Fall also nicht um Netzneutralität, sondern möglichen Marktmissbrauch -- das geht auch aus dem Statement von Init7 hervor, wenn man es sich genau durchliest. Ob die Vorwürfe hier zutreffend sind, das kann ich weder mit den vorhandenen Informationen beurteilen, noch habe ich die notwendige juristische Kompetenz. 
[/Update]


Schlussfolgerungen


Die vielen Beispiele haben hoffentlich deutlich gemacht, dass das Thema Netzneutralität höchst komplex ist, und dass es unzählige von Beispielen gibt, bei denen die Netzneutralität aus völlig legitimen Gründen "verletzt" wird. Die meisten Aktivisten für eine Netzneutralität haben das inzwischen auch realisiert und wollen lediglich eine "böswillige" Verletzung (wie auch immer das definiert wird) verbieten. Nur: Hierfür sollte man erst auf "mildere" Mittel setzen: Auf den Wettbewerb (wären die apokalyptischen Befürchtungen alle wahr, so hätten Provider nie Flatrates eingeführt -- dafür sorgte auch der Markt), und dort, wo jemand eine marktbeherrschende Stellung hat, auf die Regulierungsbehörden.

Man sollte sich auch vor Augen halten, was die Folgen einer allgemeinen Netzneutralität wären. Wie wir oben gesehen haben, gibt es unzählige Beispiele für absolut sinnvolle "Verletzungen" der Netzneutralität. Die Politik müsste also Ausnahmen vorsehen. Und was wird dabei dann ein wichtiger Faktor? Richtig, Lobbyarbeit. Eine Netzneutralität würde zwangsläufig dazu führen, dass die Großen, die sich Lobbyarbeit leisten können, bevorteilt werden gegenüber den Kleinen und Mittleren, die das nicht können.
Auch hätte es erheblich negative Auswirkungen für Innovationen, wenn alles, was irgendwie Netzneutralität tangieren könnte, erst von der Politik genehmigt werden müsste. Da hat jemand eine tolle Idee, muss dann aber erst mal Monate auf die Bundesnetzagentur warten, bis sie seine QoS-Einstellungen genehmigt? War nicht der Plan, dass Deutschland im digitalen Bereich aufholt?

Auch das oben bereits angesprochene Positionspapier der Bundesregierung zur Netzneutralität geht in die falsche Richtung. Es setzt ausgerechnet an der Stelle an, an der der Kunde den meisten Einfluss hat und auch haben sollte, an der “letzten Meile”. Und durch das explizite Freigeben von “Spezialdiensten” wird ein mögliches missbräuchliches Verhalten durch Provider legalisiert, denen ansonsten vielleicht durch Beschwerden bei den Wettbewerbshütern beizukommen wäre. Ähnlich wie bei dem Leistungsschutzrecht sollte sich die Bundesregierung fragen, ob es nicht besser ist nichts zu tun, als mit falschem Aktionismus Schaden anzurichten -- auch wenn “nichts tun” sicherlich vielen Politikern schwer fällt, die ja so gerne gestalten.

Was auch beachtet werden sollte: Das Thema Netzneutralität ist ein temporäres "Problem". Die potentielle Bandbreite, die die Menschheit benötigen kann, ist endlich. Es gibt eine endliche Zahl von Menschen, und der Mensch kann auch nicht sinnvoll über eine gewisse Bandbreite hinaus konsumieren, da Augen, Ohren und Gehirn beschränkt sind. Der technische Fortschritt bei den Leitungskapazitäten wird aber immer weiter gehen. Es ist natürlich schwer vorherzusagen wann es der Fall sein wird, aber es ist sehr sicher, dass irgendwann die verfügbare Bandbreite die benötigte deutlich überschreiten wird, und damit QoS obsolet wird.

Die Politik sollte immer dann erst regulierend eingreifen, wenn erkennbar etwas schief geht. Das ist bei der Netzneutralität nicht der Fall. Die Thematik wird ja oft diskutiert unter dem Motto "Netzneutralität in Gefahr". Alleine das suggeriert einen falschen Zustand, denn seit Bestehen des Internet gab es noch nie Netzneutralität. Und trotzdem hat es sich bisher ganz gut entwickelt. Never change a running system.


Kritik an konkreten Gesetzesinitiativen


Oben führte ich ja schon aus, warum mich das Positionspapier der Bundesregierung wenig begeistert: Es setzt an der Stelle an, an der sich der Gesetzgeber am ehesten heraus halten sollte, dort wo der Kunde selbst die meiste Kontrolle hat und wo QoS am ehesten in seinem Sinne umgesetzt wird: Bei der “letzten Meile”. Jedenfalls solange hier überhaupt kein Missbrauch erkennbar ist, der ein gesetzliches Eingreifen rechtfertigen würde.
Und da der Vorschlag gesetzlich definieren würde, was Provider alles dürfen, würde das den Handlungsspielraum der Wettbewerbshüter einschränken, bei Missbrauch gegen Provider vorzugehen.

Ein weiterer Vorschlag kam von den Piraten Schleswig-Holstein -- hier die zentralen Passagen:

Diese Verordnung soll

eine grundsätzliche Verpflichtung für Internetzugangsanbieter beinhalten, alle übermittelten Datenpakete während der Übertragung unabhängig von Herkunft, Ziel, Inhalt oder Tarif zu behandeln;

klarstellen, dass den Zugangsanbietern keine Einsicht und kein Eingriff in die Inhalte von Datenpaketen („Deep Packet Inspection“) erlaubt ist;

Ausnahmen nur dann zulassen, wenn dies technisch zur Qualitätssicherung notwendig ist oder rechtlich erforderlich;

Zugangsanbieter verpflichten, alle von ihnen in diesem Sinne durchgeführten Netzwerkeingriffe offenzulegen, ihre Notwendigkeit nachprüfbar darzulegen und sie in ihren Kundenverträgen festzuschreiben;




Dieser wirft gleich mehrere Fragen und Kritikpunkte auf:

Was ist mit “grundsätzliche Verpflichtung” gemeint? “Grundsätzlich” in Juristensprech heißt ja: Es gibt Ausnahmen. Wo werden diese Ausnahmen definiert? Von der Behörde in Form einer Verordnung? Das trifft dann genau die bereits erwähnten Kritikpunkte: Es werden die gestärkt, die sich Lobbyisten leisten können, und es wird ein bürokratischer Moloch errichtet, der jedwede Innovationsfreude im Keim ersticken wird.

Dann wird gefordert, dass Daten unabhängig vom Tarif behandelt werden müssen. Stellen wir uns folgende Situation vor:
Ein Kunde benötigt 10 MBit/s. Der Provider schaltet ihm physikalisch 100 MBit/s, drosselt ihn aber mittels QoS auf 10 MBit/s herunter. Vorteil für den Kunden: Will er irgendwann auf 100 MBit/s upgraden, ist das weder mit langen Wartezeiten noch hoher einmaliger Bereitstellungsgebühr verbunden. Aber es würde gegen den Vorschlag verstossen, denn der Provider behandelt Daten unterschiedlich abhängig vom Tarif.
Noch deutlicher wird das, wenn wir uns vorstellen, der Provider lässt den Kunden die 10 MBit/s überschreiten, solange er noch genügend Kapazizät in seinem Backbone hat. Ein anderer Kunde, der den gleichen physikalischen Anschluss hat, aber einen Tarif für uneingeschränkte 100 MBit/s (und dafür natürlich auch mehr zahlt), hat diese Einschränkung nicht. Zwischen der Behandlung der Datenpakten dieser Kunden wird ganz klar nur anhand des Tarifs unterschieden, demzufolge wäre es ein klarer Verstoss gegen die vorgeschlagene Verordnung. Aber was bitteschön ist falsch an solchen individuellen und kundenfreundlichen Tarifen?

Der Entwurf erlaubt ja ausdrücklich Ausnahmen bei “technischer Notwendigkeit”, aber wo werden diese definiert? Ist es wieder von einer Verordnung abhängig, was als “technisch notwendig” erachtet wird? Und ist hier folgerichtig Lobbyarbeit gefragt?

Und dann sollen die Zugangsanbieter verpflichtet werden, alle “Netzwerkeingriffe offenzulegen” und in die Verträge zu integrieren. Was heißt das? Müssen alle Maßnahmen gegen z. B. Denial-of-Service Angriffe unmittelbar öffentlich gemacht werden, bevor man sie umsetzen darf? Und was soll hierzu in den Verträgen stehen? Was will man mit solchen Vorgaben erreichen? Die Provider können sich hier nicht in ihrer operativen Handlungsmöglichkeit einschränken, und würden sich einen Persilschein unterschreiben lassen. Wem wäre damit geholfen?

Dieser Vorschlag, eine Netzneutralität gesetzlich vorzuschreiben, hinterlässt mehr Fragen als Antworten. Er würde aufgrund seines Interpretationsspielraums vermutlich die Großen gegenüber den Kleinen und Mittleren noch mehr stärken.

(original gepostet 08.12.2014 auf Google+)

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